Die Umwelt und der Mensch können nicht losgelöst voneinander betrachtet oder analysiert werden. Auch wenn Umwelt auf den ersten Blick abstrakt und fern wirkt, hat sie doch durchgehend einen fundamentalen Anteil an der menschlichen Entwicklung im physischen, kognitiven und emotionalen Sinne.

Wir können zwar in ihr schöpferisch gestalten, trotzdem muss ganz deutlich von einer Abhängigkeit der Menschen zur Umwelt gesprochen werden. Und selbst wenn es uns nicht gefällt, sind wir als Menschen immer in dieser Abhängigkeit.

Behindernd ist die vom Mensch geschaffene Umwelt

Wird der Mensch in einer menschengestalteten Umwelt betrachtet, fällt beim Thema Behinderungen oder temporäre Einschränkungen, wie z.B. Krankheit, etwas Bedeutendes auf. Beides führt in Teilen zu einer Exklusion. Ob es sich dabei um bauliche Besonderheiten, wie fehlende Aufzüge, Treppenstufen oder Bodenführungen für sehbehinderte Menschen handelt, oder um fehlende Förderung oder Programme für lernschwache Menschen. Die Angst vor der Hilflosigkeit und der in diesem Zusammenhang stehende fehlende Unterstützung, sorgt für eine Vermeidung von Aktivitäten und damit für eine eingeschränkte Partizipation.

In einer überwiegenden Mehrheit der Fälle in denen es zu Behinderungen kommt, ist es fast immer die vorhandene Umwelt, die eine Barriere darstellt. Damit werden Menschen an der Ausübung ihrer Rechte gehindert, benachteiligt oder ausgeschlossen. Gehen wir von einer menschengemachten Umwelt aus, ist es der Mensch selbst, der für Behinderung, Benachteiligung und Ausschluss sorgt. Daraus ergibt sich der Schluss, dass nicht der Mensch selbst behindert ist, sondern er durch seine Umwelt behindert wird.

Behinderung wird mit Einvernehmen in der Medizin ebenfalls problematisch betrachtet. Es handelt sich um eine Abweichung von der medizinischen Norm, eine medizinische Besonderheit mit biomedizinischen Ursachen, die kuriert, therapiert oder betreut werden muss. Dabei wird vergessen, dass die Gesellschaft selbst diese Normen setzt, vergleicht und einfordert. Die Umwelt wird im Sinne der Mehrheit gestaltet und damit werden Minderheiten aktiv exkludiert, sofern sie sich nicht anpassen.

Erik Halm

Erik Halm

PT, M.Ed.

Erik Halm is a physiotherapist and medical educator and works as a lecturer at the Brandenburg University of Technology Cottbus and Senftenberg (Germany). His work focuses on screening in the context of first contact, ICF-related patient diagnostics in which the environment and environmental influences play a relevant role. In pedagogy, he deals with digital teaching and learning design and competence development based on the framework and professional profile in physiotherapy.

Die ICF der WHO als Orientierung

Auch in der Physiotherapie in Deutschland ist mein Erleben, dass oft und scheinbar alternativlos die Fixierung auf Strukturen und Funktionen von Körperteilen, ihre Normwerte und die entsprechende Therapie bzw. „Normalisierung“ erfolgt. Mit sicheren Tests wird der Fehler der Patient*innen festgestellt und dann der Norm wieder angeglichen. Dieser biomedizinische Denkansatz entbehrt jeder Anerkennung von Individualität und ist definitiv zu kurz gedacht.

Auch wenn die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO jetzt schon fast 20 Jahre alt ist, hat sie scheinbar noch keinen umfassenden Einzug in die Köpfe und das systematische Denken in Medizin und Physiotherapie gehalten. Sie ist aber ein gutes Beispiel, wie inklusive und umfassendere Denkprozesse aussehen könnten.

Sie bietet mehr als den Fokus auf das Biomedizinische und hat das Potential den Denkrahmen für den diagnostischen Prozess deutlich zu erweitern, weil sie zusätzlich den psychologischen, sozialen und ökologischen Aspekt eines Menschen miteinbezieht.

Neben der Struktur- und Funktionsebene sind für das Beschwerdebild der Klient*innen auch die Einschränkungen in der Aktivität und Partizipation sowie Hindernisse in den personenbezogenen Faktoren und der Umwelt für einen therapeutischen Ansatz bedeutend und werden in ihr berücksichtigt.

Umweltfaktoren sind vieles

Mit Blick in die ICF wird klar, wie viel darunter zu zählen ist. Dort heißt es: „Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale, einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Dasein entfalten.“ (WHO, 2005, S. 123). Diese Beschreibung bekommt bei genauerer Betrachtung Sinn. Neben Produkten und Technologien gehören die natürliche und vom Menschen verändere Umwelt, Unterstützung und Beziehungen, Einstellung, sowie Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze. Da sich die Klassifikation der Umweltfaktoren auch mehr als 15 Seiten erstreckt, können diese hier nur angerissen werden.

Es findet sich alles, was Menschen in allen Lebensphasen von außen beeinflusst. Von der Nahrung und Medikamenten über Familie und Freunde, Luft- oder Lichtverschmutzung, kulturelle Normen, Werte oder politischen Strukturen, bis hin zu Gesundheitsdiensten, Behörden oder gesetzliche Grundlagen. Nicht alles ist davon für Physiotherapeut*innen von Relevanz, aber vieles kann in einer Kontextuierung von Bedeutung sein und bei näherem Analysieren ein Teil der Ursache des Gesundheitsproblems aufdecken.

Partizipation und Umweltinteraktion als Sinnstiftend für Menschen

Wenn ein Mensch sein Leben betrachtet und reflektiert, sind vermutlich Zeit mit Familie, Freunden und auch Kollegen*innen ein wichtiger Teil für eine positive Einschätzung. Auch die eigenen Hobbies, den Beruf oder eine Ausbildung auszuüben, Erfolge zu erleben und sich selbst weiterzuentwickeln, bedeutende Teile des Lebens sein. Fallen eines oder mehrere dieser Lebensbereiche durch Krankheit oder Behinderung weg, sind Menschen unweigerlich von Teilen oder vom gesamten gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.

In der physiotherapeutischen Betreuung sind diese Lebensaspekte meines Erachtens für die Diagnostik, Zielfindung und für die therapeutische Intervention sehr bedeutend. Ob ich meinen Arm 10° mehr in Elevation heben kann oder nicht, wird nebensächlich. Aber wieder etwas tun zu können, dass ich gern mache, wie zum Beispiel zu arbeiten, Hobbies nachgehen, Interaktionen zu haben, und mehr, dass ist bedeutend und sollte therapeutisch gefördert werden.

Die Hilfsfrage der Patienten als Ziel für die Therapie

Auf die Frage: „Was können Sie aktuell nicht mehr oder nur noch eingeschränkt tun, wollen es aber wieder?“, erklären Klient*innen oft die erlebte Behinderung durch die Umwelt. Die Aussagen sind meiner Einschätzung nach richtungsweisend für den weiteren diagnostischen und auch therapeutischen Prozess.

Die erlebten Barrieren gilt es in der Physiotherapie zu betreuen und den Klient*innen Bewältigungsstrategie an die Hand zu geben, damit umzugehen. Natürlich kann dann die 10° Bewegungserweiterung notwendig sein, aber sie ist möglicherweise nicht das eigentliche Ziel, sondern Mittel zum Zweck.

Wir müssen meines Erachtens das Umwelt- und Barriere-erleben von Klient*innen erkunden, diese auf Aktivitäten und ggf. auf Strukturen herunterbrechen, um dann mit ihnen aktiv daran zu arbeiten und es wieder zu ermöglichen.

Gleichzeit ist es aber wichtig, Einschränkungen und Hindernisse der Klient*innen in der Umwelt wahrzunehmen, diese, wenn sie gravierend sind, an andere relevante Stellen kommunizieren und damit Zugänge zur Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Ob es eine Rollstuhlsportgruppe ist, die Konzertbegleitung für sehbehinderte Menschen oder die Gebärdensprachdolmetscher*in.

Es geht also zum einen um eine stärkere Vernetzung der Gesundheitsprofessionen und interdisziplinär Zusammenarbeiten, von der die Klient*innen profitieren. Zum anderen müssen wir als Physiotherapeut*innen den Blick auf die Struktur lösen und ihn weiter fassen, als dies bislang der Fall ist.