Wie eine deutsche Physiotherapie-Zeitschrift (1) im Juli 2020 veröffentlichte, sind in der Forschung Therapiemethoden in der Erprobung, die eine weitere Elektrifizierung der Physiotherapie zur Folge hätten. Die zunehmende Elektrifizierung von Lebenswelten verändert unsere Welt und damit die Welt, in der zukünftige Generationen leben werden. Mit jedem neu elektrifizierten Lebensbereich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Natur-Mensch-Technik. In dieser Reihenfolge, denn der Mensch ist das Bindeglied zwischen Natur und Technik.

In diesem Beitrag geht es um das Verhältnis Mensch-Technik in der Physiotherapie. Implizit ist das Verhältnis Natur-Mensch mit gemeint, denn die Elektrifizierung wird nicht intendierte, aber gewusste Folgen für den Planeten haben (2). Die Auswirkungen „intelligenter“ Systeme auf Menschen und auf die Dehnungszonen unseres Planeten sind bisher noch nicht erforscht worden (3). Deshalb nähere ich mich dem Thema deduktiv-analytisch, nicht empirisch.

Ich setze Intelligenz in Bezug auf technische Systeme in Anführungszeichen, weil zur Intelligenz die moralische Urteilsfähigkeit gehört, z.B. der Sinn für Gerechtigkeit. In diesem Sinne können auch die leistungsstärksten Algorithmen nicht intelligent sein, sondern nur „intelligent“.

Nadja Thöner

Nadja Thöner

PT

Nadja Thöner is a Physiotherapeutin mit den Schwerpunkten Bewegungswahrnehmungstechniken, Beckenboden-Rehabilitation und Bewegungsförderung.

 Elektrifizierung ist ein Begriff, der die Ergänzung menschlicher Fähigkeiten durch technische Hilfsmittel in mehreren Bereichen darstellen soll, z.B. kann mit dem Begriff die Ersetzung von Fahrrädern durch E-Bikes beschrieben werden, aber auch die Ergänzung körpereigener sensorischer Fähigkeiten durch Wearables.

In diesem Beitrag wird beleuchtet, was es bedeutet physiotherapeutische Diagnosen mit Hilfe oder vollständig durch künstliche Intelligenz (KI) zu erstellen. Anhand einer Argumentanalyse im Sinne von Bowell, Cowen und Kemp (4) werde ich zeigen, dass KIs ein aktives Nachdenken über unser physiotherapeutisches Selbst-verständnis fordern. Ich plädiere für eine kulturelle Sichtweise auf die Therapiesituation, weil der Kulturbegriff eine verbindende Klammer um die Trias Natur-Mensch-Technik bilden kann. In diesem Beitrag zeige ich die Grenze für technisch ausgeführte Diagnosen in der Physiotherapie auf, wenn die Therapiesituation als kulturell bedingt angesehen wird. Der Begriff der Kultur eröffnet eine Verbindung zu dem weiten Feld der Kultur-wissenschaften, deren Schlüsselbegriffe die Begriffe Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung, Identität und Geschichte sind (5).

Der Neuroanthropologe und Kognitionswissenschaftler Merlin Donald führt die immense kognitive Entwicklung der Menschen auf die Größe der sozialen Gruppen zurück, die die der Primaten überstieg. Die daraus resultierenden vielfältigen Interaktionen (Handlungen) zwischen den Individuen führten zu größeren Hirnleistungen und zu einer Vielfalt symbolischer Repräsentationen und Austauschformen (6), die uns heute in Form von Sprache, Schrift, Zeichen und Algorithmen begleiten. Ohne Sprache, die eine symbolische Repräsentation ist, wäre keine Physiotherapie möglich. Ohne gesprochene Sprache vielleicht noch, aber nicht ohne Zeichen-, oder Körpersprache.

Sprache in all ihren Aspekten ist eine kulturelle Leistung, wie der Anthropologe Michael Tomasello zeigt (7). Er arbeitete die Bedeutung eines Vorgangs, den er „geteilten Intention“ nennt, für die Entwicklung von Symbolen, also bedeutungstragenden Zeichen, heraus. Die geteilte Intention als Basis von Lernprozessen durch Symbole (das können abstrakte Zeichen, aber auch Werkzeuge sein) bedeutet, dass Menschen nicht nur voneinander lernen, sondern auch durch den anderen. Wir lernen, weil wir verstehen, welche Intention ein anderer mit einem Werkzeug verfolgt. Unsere Patientinnen verstehen den Sinn des Trainings an der Beinpresse nach einer Knie-TEP, weil wir Therapeutinnen verstehen, dass die Beinmuskulatur des betroffenen Beines nach der OP geschwächt ist und dies im Befundprozess durch spezifische Bewegungsaufträge, die die Aktivität bestimmter Muskeln hervorheben (und damit auch bezeichnen), verifizieren und unser Erleben der Testphase mit der Patientin teilen und dadurch eine geteilte Bedeutung erzeugen.

Physiotherapie findet in dem weiten Raum von Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung, Identität und Geschichte statt. Die Bedingung der Möglichkeit für Therapie ist also die menschliche Kultur, ohne Kultur ist keine Physiotherapie denkbar, so meine These. Um dies weiter zu beleuchten stelle ich nun ein Argument aus dem Buch Künstliche Intelligenz -Fluch oder Segen von Jens Kipper (8) vor und wende es im Folgenden auf die Praxis der Diagnostik in der Physiotherapie an. 

Das Argument Jens Kippers lautet folgendermaßen:

1) Menschen sind nicht perfekt, wenn es darum geht präzise und konsistente Urteile zu fällen.

2) Technische Systeme sind präziser und konsistenter als der Mensch, wenn es darum geht zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu entscheiden. Das zeigen künstliche neuronale Netze, die z.B.  jeden Menschen in Schach, Shogi, Go oder StarCraft II schlagen.

3) Schach, Shogi, Go oder StarCraft II sind hochkomplexe Spiele mit unzähligen Handlungsoptionen, KIs können also Urteile in hochkomplexen Situationen fällen.

4) KIs sind präziser und konsistenter in ihren Urteilen als Menschen.

5) Urteile sollen präzise und konsistent sein.

——–Schlussfolgerung——-

6) Wenn KIs präziser und konsistenter in ihren Urteilen sind als Menschen, dann ist es geboten, menschliche Entscheidungen in bestimmten Bereichen durch KIs zu ersetzen.

 

Umformuliert auf die Diagnostik in der Physiotherapie lautet dieses Argument folgendermaßen:

1) KIs können Muster präziser und konsistenter erkennen als Menschen.

2) Krankheitssymptome folgen bestimmten, wenn auch unter Umständen komplizierten, Mustern, deshalb können sie bestimmten Kategorien (Diagnosen) zuordnet werden.

3) KIs sind präziser und konsistenter in der Mustererkennung als Physiotherapeuten.

4) Diagnosestellungen sollten präzise und konsistent sein.

——-Schlussfolgerung——-

(5) Physiotherapeuten sollten in einigen Fällen keine Diagnosen mehr stellen, sondern KIs sollten Physiotherapeuten in der Diagnosestellung unterstützen oder ersetzen.

In der ersten Form des Argumentes stehen Handlungsoptionen in einer Spielsituation im Mittelpunkt, in der zweiten Version des Argumentes geht es um Diagnosen, die möglichst effektive Behandlung ermöglichen sollen. Beide Situationen sind insofern strukturgleich, als jeweils aus einem Pool von Möglichkeiten mittels statistischer Verfahren die wahrscheinlichste Möglichkeit für eine beste Lösung ausgesucht wird. Ist aber der Übergang von Kippers Argument auf das physiotherapeutische Argument zulässig?

Rein logisch ist ein Übergang möglich da die beschriebenen Sachverhalte als als logisch äquivalent angesehen werden können. Allerdings würde so ein Übergang bedeuten, Physiotherapie unter das Paradigma der Funktion zu stellen.

Eine Funktion ordnet dem Element einer Menge, der Symptomatik ein Element aus einer anderen Menge zu, der Diagnose. Butler und Moseley haben gezeigt, dass zumindest für Schmerzrepräsentationen diese einfache Zuordnung unterkomplex ist (9). Sie deuten auf soziale und mentale Zustände als hinreichende Bedingungen für die Schmerzentstehung hin. Die Idee eingebetteter Körperbilder, die ich befürworte, schließt sowohl an Butler und Moseley an, als auch an die Phänomenologie als Bezugs-wissenschaft und insbesondere den Enaktivismus, der eine Verbindung von Kognitions-wissenschaften und Phänomenologie (10) voranbringt. Eingebettete Körperbilder denken den Menschen als Kultur- und Naturwesen, als lebenden und gelebten Körper in der gegebenen Situation. Schmerzen oder Funktionseinschränkungen sind als mehr-dimensionale Geschehen zu betrachten und die Zugänglichkeit in der Therapie, die Möglichkeit der geteilten Wahrnehmung, ist eine Errungenschaft der kulturellen Evolution (6). 

Somit dient der physiotherapeutische Befund nicht allein der Diagnosefindung, sondern ist eine Kulturleistung, wie auch der Therapieprozess. Die Kulturleistung liegt in der „geteilten Intention“. Therapeutin und Patientin fokussieren sich gemeinsam handelnd auf ein Phänomen, z.B. das Bewegungsproblem der Patientin. In diesem interaktiv und sprachlich komplexem Prozess, sind sich beide der Intention, der jeweils anderen in der eigenen Perspektive, aber auch in der Situationsperspektive bewusst. Beide wissen was sie selbst tun wollen, was sie gemeinsam tun wollen und was die andere tun will, und dies auf koordinierte, aufeinander abgestimmte Weise. Schon der erste Kontakt mit der Patientin ist also gefüllt mit komplexer zwischenmenschlicher Interaktion, die für eine erfolgreiche Therapie geleistet werden muss. Der erste Kontakt initiiert durch geteilte Intention eine „geteilte Bedeutung“ der Diagnose und Therapie.

 Wenn KIs präziser und kohärenter als Menschen Symptome zu Diagnosen zuordnen, kann das im Falle von Röntgenauswertungen, besonders in großer Zahl, gegebenenfalls angemessen sein. Von dieser Möglichkeit kann allerdings kein normativer Anspruch für die Physiotherapie abgeleitet werden, denn würde der erste Kontakt in der Physiotherapie-praxis von „intelligenten“ Systemen übernommen werden, so würde der erste Kontakt mit der Therapeutin doch wieder ein erster Kontakt mit allen kulturellen Erfordernissen des intersubjektiven Austauschs sein. Könnte es also sein, dass sich die Anzahl „erster Kontakte“ verdoppeln würde?

Was bedeutet nun eine technisch gestützte physiotherapeutischen Diagnose für Praktikerinnen? Für Praktikerinnen stellt sich die Frage, welche Form der Rationalität in der Physiotherapie gepflegt werden soll, ein enger (funktionalistischer) oder einen weiter (kultureller) Begriff? Ein enger Begriff von Rationalität bringt die Gefahr der Reduktion des Clinical Reasonings um seine unspezifischen Effekte, die ich als kulturellen Aspekt und Teil eines nicht reduzierten Rationalitätsbegriffs (11) stärken möchte. Beworben wird der enge Begriff mit der Möglichkeit der Präzision und Kohärenz von Diagnosen. Werden aber präzisere und kohärentere physiotherapeutische Diagnosen tatsächlich zu effektiveren physiotherapeutischen Behandlungen führen?

Um die Frage annähernd zu beantworten, müssen wir noch einmal aufrufen, was passiert, wenn KIs Zuordnungen treffen und was passiert, wenn Menschen Zuordnungen treffen. Künstliche Neuronale Netzwerke verarbeiten eingegebene Symbole (Schmerzlokalisation, Schmerzdauer, …), um das wahrscheinlichste Symbol, die wahrscheinlichste Diagnose, zu berechnen. Menschen hingegen nutzen Symbole, um Bedeutung zu übertragen, Symbole sind für Menschen die Vehikel dessen, was gemeint ist. Bedeutung selbst ist nicht symbolisch und deshalb nicht im Algorithmus ausdrückbar (6).

Menschen ordnen Diagnosen Bedeutungen zu, die wiederum kulturell und sozial verankert sind. Wer die KI in ihrer Konzeption als Ermittler der effektivsten, wahrscheinlichsten Handlungsoption als hinreichend für eine physiotherapeutische Diagnosestellung versteht, missversteht den Menschen als Mensch. Menschen brauchen Bedeutung, um sich in der Welt orientieren zu können. Oder wer würde sich ohne Übersetzungsapp, Navi und ohne der Japanischen Sprache mächtig zu sein, in Tokio in die U-Bahn setzten?

Im Falle der Anwendung von physiotherapeutischen Diagnosetools ist damit gesagt, dass die Bedeutung der maschinell erzeugten Diagnosen für die Patientinnen von uns Praktikerinnen mit den Patientinnen dazu addiert werden muss. Sowohl der erste Kontakt in der Physiotherapie als auch die Erarbeitung der Bedeutung einer gestellten Diagnose sind kulturelle Praktiken. Diese kulturellen Praktiken sind notwendige und hinreichende Bedingungen für die Bedeutung der Therapie. Was leistet also die KI, im Falle der Physiotherapie, mehr als Therapeutinnen?

Hier scheint mir die Begründungslast, die mit der Einführung einer neuen Technik einhergeht, durch die Begriffe Präzision, Kohärenz, Effizienz nicht eingelöst zu sein. Auch in Hinblick des steigenden Energiebedarfs durch das Produkt KI besteht weiterer Begründungsbedarf. Der Energieverbrauch entsteht nicht nur im Moment der Berechnung von Diagnosen, sondern auch im Verlauf des Lebens des Produktes, von der Herstellung bis zum Recycling/Entsorgung. Auch stellt sich für Praktikerinnen die Frage nach der Langlebigkeit und Datensicherheit einer Version.

Das Phänomen der KI für die Physiotherapie ist hiermit nur angerissen. Es bedarf einer kritischen Auseinandersetzung mit z.B. der systemtheoretischen Analyse von Armin Nassehi (12) oder auch der Studie von Lara Huber (13), die sich mit der Produktion von Gesundheitsdaten in Medizin und Freizeit befasst.

Ich bin eine Praktikerin, die sich vornehmlich für die Bewegungswahrnehmung interessiert, um meinen Patientinnen, wenn ein Mangel besteht, in ihrer Bewegungskompetenz zu unterstützen. Bewegungskompetenz meint motorisches Geschick und die Fähigkeit Körperwahrnehmungen beurteilen zu können. Als eine solcherart interessierte Praktikerin frage ich mich auch: Wie wirkt die dem Körper immer näher kommende Technik auf den Menschen und damit auf die Arbeit von Physiotherapeutinnen?

Literatur 

(1) pt-Zeitschrift: EQ und IQ in Harmonie.07/20.

(2) statista: Erzeugung von Elektroschrott, Prognose für 2030. Unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/792541/umfrage/erzeugung-von-elektroschrott-weltweit/ Prognose: Im Jahr 2030 knapp 75 Mill.Tonnen Elektroschrott , kumuliert handelt es sich um ein vielfaches mehr, Zugriff am 4.1.21

(3) Crawford, Kate und Calo, Ryan: There is a Blind Spot in AI Research. In: Nature; Vol. 538; 2016, 311-313. Oder auch: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Hauptgutachten. Unsere gemeinsame digitale Zukunft.Berlin: WBGU, 2019.

(4) Bowell, Tracey; Cowan, Robert; Kemp, Gary: Critical Thinking. 5. Auflg. New York: Routledge, 2020.

(5) Jaeger, Friedrich und Liebsch, Burkhard (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften.Stuttgart: J.B.Metzler, 2004.

(6) Donald, Merlin: Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1993.

(7) Tomasello, Michael: The Cultural Origins of Human Cognition. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1999.

(8) Kipper, Jens: Künstliche Intelligenz – Fluch oder Segen? Berlin: J.B.Metzler, 2020.

(9) Butler, David, S. und Moseley, Lorimer, G.: Schmerzen verstehen. 3. Auflg. Berlin: Springer-Verlag, 2016.

(10) Thompson, Evan: Mind in Life. Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind. Cambridge, Massachusetts: The Belknap Press of Harvard University Press, 2007.

(11) Diesen Gedanken würde ich an den Begriff der Empathie (Edith Stein), aber auch an Evan Thompson, der die Phänomenologie in die Kognitionswissenschaften versucht einzubinden knüpfen. Ausgearbeitet ist die Übertragung auf das Clinical Reasoning aber noch nicht.

(12) Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H.Beck, 2019.

(13) Huber, Lara: Normal. Konturen eines Leitbegriffs in Wissenschaft und Gesellschaft. Hamburg: Textem, 2018.